Als hätte eine Frau innen Platz genommen

Tanz und Musik zwischen Himmelskönigin und Mutter Erde

Marianne Früh Tanz und ChoreographieSusanne Bohn Gesang und Instrumente

Wir lassen uns von den weiblichen Aspekten des Göttlichen küssen. Empfangend und hervorbringend. Zwei sich dem Einen nähernd, erforschend, hingegeben. Zeitgenössischer Tanz verbindet sich mit live gesungener und gespielter Musik aller Zeiten, kontemplative Texte und Stille ergänzen das Fest innerer und äußerer Bewegung.

Marianne Früh und Susanne Bohn

Lesen Sie die Predigt von Reiner Karcher.

Marianne Früh und Susanne Bohn musizieren und tanzen.
Marianne Früh und Susanne Bohn in der evangelischen Kirche Altleiningen.

Fotos: Wolfgang Schmitt


Tanz als Gleichnis des Lebens

Predigt über »Tanz als Gleichnis des Lebens« am 25.02.18 (Reminiscere) / (PZN Wiesloch)
von Reiner Karcher, ev. Pfarrer und Kirchenseelsorger des PZN Wiesloch

Liebe Gottesdienstgemeinde am PZN!

Da ertönt eine Stimme und eine Bewegung kommt hinzu. Sie nähert sich der Stimme, sie tastet sich ganz nah an sie heran, doch in behutsamer Distanz. Sie umkreist sie, sie lehnt sich an, sie entfernt sich ein wenig von ihr, um sich sogleich wieder anzunähern, die Hand zu reichen, sich erneut zu lösen, und doch ganz in der Nähe bleibend und gleichsam beistehend, und wiederum eine behutsame Bewegung auf sie zu machend und die Hand haltend.
Vielleicht erging es Ihnen ähnlich wie mir, als ich Gesang und Tanz zu Hildegard von Bingen am Donnerstag bei der Probe in dieser Kirche zum ersten Mal hörte und sah. Ich fühlte mich plötzlich ruhiger und es war, als seien meine Ohren größer geworden. Ich erblickte Nähe, die gehalten wurde durch Respekt, und ich sah Halt, geprägt von Würde und Würdigung.

»O aufblühender Zweig, du stehst aufrecht da in deiner Würde, wie wenn du aus der Morgenröte dich erhoben hättest. Nun sei glücklich und froh und gewähre uns, die wir zerbrechlich und schwächlich sind, dass wir frei werden von lähmenden Gewohnheiten, und reiche uns deine Hand, damit wir uns erheben.“ So lautet die Übersetzung des Textes, der Gesang und Tanz zu Hildegard von Bingen zugrunde liegt. Welch realitätsnahes und zugleich die Würde bewahrendes Bild vom Menschen. Der Mensch ist in seinen lähmenden Gewohnheiten in sich verkrümmt, er liegt gleichsam am Boden, er ist zerbrechlich und schwächlich. Und gerade als solcher braucht er Aufrichtung, braucht er eine haltende Hand, braucht er jemanden, der ihm vermittelt: „Du trägst die Würde in dir, gehalten und aufrecht stehen zu können.«

Hildegard von Bingen hat mit ihren Worten vermutlich angespielt auf Verse aus dem Prophetenbuch Jesaja:

(1) Es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. (2) Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN. (3) … Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, (4a) sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande.

Der Mensch, so die Vision des Propheten Jesaja, wird wieder in seine Würde eingesetzt. Verknüpft ist diese Vision mit der Vorstellung eines Embryos, das ins Leben hinein geboren wird und als Träger der Hoffnung für ein besseres Leben gilt. So wie im Lobgesang der Maria. »Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Erniedrigten.« Zwischen den Händen, so im Tanz vorhin, ist etwas unendlich Wertvolles, das geboren werden will und geschützt werden muss. Dieses Gebären ist ein schöpferischer Prozess. Die sich bewegende Tänzerin nimmt die Gaben des Himmels auf und schöpft aus dem Reichtum der Erde. Die Übergänge sind fließend. Die Flöte – das Lied des Lebens – leitet die Gebärende. Die Gebärende, die Schöpferische bleibt dabei unablässig in Beziehung zur Melodie und zum Rhythmus. Auch dann, wenn sie wie selbstvergessen weite Bögen macht und sich zu entfernen scheint, bleibt die Verbindung zur tragenden Melodie. Sonst hätte sie keinen Bezugspunkt mehr, sie würde sich verloren fühlen. Wie ein Mensch, der manchmal die Beziehung zum beschirmenden Himmel und zum tragenden Erde verloren hat - der seinen göttlichen Bezugspunkt nicht mehr kennt und doch zugleich diese Sehnsucht in sich trägt, in Beziehung zu bleiben und darin Geborgenheit und Orientierung zu erfahren.

Wenn sie da ist, diese innere Orientierung am tragenden Grund des Lebens, dann kann das Leben seine sprühenden Seiten entwickeln, wie im letzten Tanz verbunden mit der beschwingten Melodie dargestellt ist. Am Ende des Gottesdienstes werden Sie das erleben. Wenn der Mensch seine göttliche Würde in sich spürt und zugleich seine Zerbrechlichkeit anerkennt, dann hält ihn sozusagen nichts mehr, die wilden, bisher noch nicht so gelebten Seiten seines Lebens in die Freiheit zu entlassen und dies immer wieder in der Waage gehalten durch Momente der Besinnung, des Innehaltens.

»Als hätte eine Frau innen Platz genommen« – eine schöpferische weibliche Energie, die natürlich auch in Männern bereitliegt. Ein schöpferisches Potenzial, das sich Mutter Erde und Vater Himmel verbunden weiß und fühlt und das Leben heiligt. Das Freiheit in sich spürt und um den Wandel weiß. Auf freien, leichten Schwingen fliegt sie davon, in das selbstbestimmte und zugleich bezogene Leben und weiter in die Ewigkeit.

Tanz und Musik, wie heute zu sehen und zu hören, können zum Gleichnis des Lebens werden. Und sie bringen vielleicht mehr zur Anschauung und zu einem gespürten Gefühl, als es bloße Worte vermögen. Da gibt es oben und unten, schnell und langsam, links und rechts, Nähe und Abstand, Verlorensein und Bezogensein, Freiheit und Bindung, Mitte und Rand, Suchen und Finden, weltlich und heilig. Und dies sind natürlich keine Gegensätze, sondern dies entspricht den Polen einer Ellipse, von denen keiner fehlen darf.

Bis ein Tanz so aussieht, wie ihn Marianne Früh getanzt hat, und bis eine Musik so hörbar ist, wie sie Susanne Bohn gespielt hat, braucht es Übung, Übung und nochmals Übung. Und daraus wird im Laufe der Zeit Erfahrung, die wiederum durch weiteres Üben verfeinert und vertieft wird. Es gibt allerdings dann keinen einmal erreichten Stand, den man ab jetzt für immer besitzen würde. Das Üben muss weitergehen, sonst werden die Finger und insgesamt der Körper unbeweglich, und dann gelingt es nicht einmal mehr, Stücke zu spielen und zu tanzen, die man sich bereits vor zehn Jahren erarbeitet hatte.

Wie stimmig ist eine Bewegung, inwieweit ist sie in Übereinstimmung mit dem, was die Tänzerin fühlt, in sich spürt und dies zugleich beim Wahrnehmen der Musik und des ihr innewohnenden Rhythmus? Und wie gut ist das Musikinstrument der Musikerin gestimmt und wie ist sie selbst eingestimmt auf das Musikstück oder das Lied, das sie vorträgt? Innere Bewegung und äußere Bewegung verlangen nach Gleich-Klang. Innerer und äußerer Rhythmus suchen nach Über-ein-stimmung.

Das ist die Herausforderung des Lebens für alle Menschen, ob wir nun tanzen und singen und Musik machen oder nicht, nämlich: nach der Übereinstimmung mit uns selbst zu suchen, immer aufs Neue. Und mit dem Gleich-Klang der Schöpfung, immer aufs Neue. Und mit den Rhythmen des Lebens, immer aufs Neue.

Reiner Karcher, ev. Pfarrer und Kirchenseelsorger des PZN Wiesloch